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Von Peter Nachtnebel.

„Gibt es da jemanden, der sich, ähm, mit Musik auskennt?“

Tamizdat hilft.

Seit mittlerweile fünf Jahren macht die in Prag und New York ansässige Kulturorganisation Tamizdat als Schaltstelle zwischen Labels, Bands und Vertrieben aus den so genannten Reformländern auf sich aufmerksam. Was 1999 als Nonprofit-Projekt und Internet-Plattform begann, erweist sich als ausbaufähig genug, dass sich wohl der eine oder andere Investor eine goldene Nase daran verdienen könnte.

Seit der EU-Erweiterungsrunde vom 1. Mai 2004 werden Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und die weiteren sechs Beitrittsländer offiziell der westlichen Hemisphäre zugerechnet. Die Integration, die auf militärischem Gebiet schon länger erfolgt ist, wurde auf wirtschaftlicher und politischer Ebene im Eiltempo durchgepeitscht; kulturell passierte er – auch mit dem unbeschränkten Zugang zu westlicher Popkultur nach 1989 – nahezu blitzartig. Die musikalisch-ästhetischen Entwicklungen der neunziger Jahre wurden in osteuropäischen Staaten nicht nur lupenrein kopiert und weiterentwickelt, sie hinterließen v. a. in Tschechien und Polen eigenständig funktionierende nationale Popindustrien. Daher scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Major-Plattenfirmen in das neue Segment vorstoßen, Eastern Pop ein entsprechendes Image verpassen und dem globalen Markt einverleiben werden. Derzeit ist die Situation von kommerzieller Seite gesehen eher trist. Wirft man einen Blick in „gut sortierte“ Plattengeschäfte wie auch Megastores, wird man abseits von zeitgenössischer oder Experimental-Musik noch höchstens in der World-Abteilung mit Klezmer und Frauenchören Produkte aus dieser Ecke Europas finden. Osteuropäische „alternative music“ gilt also in Zeiten, wo der angloamerikanische Authentizitätsnachweis für Popkultur tendenziell einem „globalisierten“ Wahrnehmen von Musik gewichen ist, weiterhin als zu unwesentlich und absatzschwach, als dass sie den Weg in westliche Plattenkisten antreten könnte.

<People need information!

Heather Mount und Matthew Covey, zwei Enddreißiger aus New York, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre Tamizdat aus der Taufe hoben, sehen auch für die Zukunft keine rosigen Aussichten für Mainstream- oder Alternative-Bands aus dem Osten. Die Vorurteile sind einfach zu groß. „Die Leute denken entweder an Beatles-Cover-Bands oder an Laibach. Aber da gibt es noch wesentlich mehr!“, meint Matthew, der die Ignoranz westlicher Musikkritiker und -konsumenten anprangert. Er, der gemeinsam mit Heather auf seinen unzähligen Reisen durch die Slowakei, Slowenien, Polen, Ungarn und Rumänien einen Überblick über die Vielfalt der lokalen Szenen gewonnen hat und mit Stapeln von Demo-Tapes und CDs in die USA zurückkehrte, war ständig mit der Ablehnung von Eastern Pop konfrontiert. Tamizdat wollte dem etwas entgegenstellen und so fängt eine Geschichte an, die für das immer noch sehr junge Internetzeitalter eigentlich schon wie selbstverständlich klingt: Man trifft Leute, redet, findet gemeinsame Interessen, will eine Austauschbörse von Informationen schaffen und stellt seine erste Website ins Netz.

Dieses nicht-kommerzielle Unternehmen zur Weitergabe von Namen, Adressen, billigen Hotels und Tourbussen entwickelt sich zur gut funktionierenden Plattform und bietet Musikern darüber hinaus die Möglichkeit, über tamizdat.org CDs zu verkaufen und sich Konzerte organisieren zu lassen. Das alles mehr oder weniger umsonst. Kommunikation zu ermöglichen war das primäre Ziel der Organisation. Junge Bands etwa aus Polen sollten ihre Ansprechpartner in der 50 km weiter gelegenen Stadt kennen, was oft nicht der Fall war. Ein Kommunikationsdefizit, das Heather und Matthew prototypisch für das Schlamassel vieler Ost-Bands sehen. „Viel zu viele Leute hier verstecken einfach ihre Informationen. Wie kann das je zu einem halbwegs funktionierenden Wachstum der Musik- und Kulturszene führen?“, wundern sich die New Yorker, die – und hier fängt die Vorgeschichte von Tamizdat an – im besten amerikanischen Pioniergeist die Eastern Frontier kennen lernen wollten und vor elf Jahren Stellen als Englischlehrer in Trenčín (Stadt in der damals frisch gegründeten Slowakischen Republik) annahmen. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Jobs aufgaben, weil sie zu sehr mit ihrer Band „Skulpey“ beschäftigt waren und nicht mehr lästige Schüler-Fragen über die Anzahl von Autos und Fernsehern in Amerika beantworten wollten. Die Indie-Pop-Band machte ausgiebige Touren durch die Slowakei und zog nach der Veröffentlichung ihrer Debüt-CD „Liz“ 1995 samt dem Schlagzeuger zurück nach New York, wo man weiterprobte und im Knitting-Factory -Umfeld Konzerte organisierte. Ihr guter Draht zu den polnischen und tschechischen Communities in Brooklyn führte dazu, dass sie 1997 die Avant-Rocker „Už jsme doma“ erstmals über den Atlantik brachten und zwei Jahre später die US-Tour der einstigen Speerspitze tschechischer Gegenkultur, der „Plastic People of the Universe“ (für die u. a. Vaclav Havel Texte schrieb), planten.

In der Zwischenzeit wurde die Sehnsucht nach Osteuropa immer größer, bis sich die beiden entschlossen, nach Prag zu fliegen, einen Kleinbus zu mieten und einfach draufloszufahren.

Himmelsrichtung: Osten. Zeitdauer: So lang’s geht. Zweck der Reise: Kontakte aufbauen.


Matthew: „Okay, wir haben in Prag begonnen und wollten zur nächsten großen Stadt: Das war Wrocław. Da waren wir also das erste Mal in Polen, haben unser Auto einfach am Hauptplatz abgestellt und das nächste Plattengeschäft aufgesucht. Wir gehen rein und fragen den Verkäufer so naiv, wie es wohl nur Amerikaner tun können: ‚Gibt es da jemanden, der sich, ähm, mit Musik auskennt, so jemand aus der Independent-Szene?‘“ Und Volltreffer! Die beiden gerieten an die Adresse des Szene-Obercheckers in Polen, der ihnen etwas verwundert eine Liste mit Hunderten von Leuten, Gruppen und Plätzen zusammenstellte, die sie treffen sollten. Nach vielen weiteren Kilometern kreuz und quer durch Polen konnten sie die Mengen an geschenkten CDs und Tapes kaum mehr tragen und flogen wieder heimwärts.

<Eastploitation?

Zurück in New York sollte das Projekt Tamizdat konkreter werden. In Analogie zur Samizdat-Bewegung, die zur Zeit des Eisernen Vorhanges über Matrizen-Kopien kritische Ostliteratur im Westen bekannt machte und der u. a. Vaclav Havel angehört hatte, nannte man sich Tamizdat. Dort (tam) herausgegeben (izdat), sollte Musik anderswo genauso wahrgenommen werden, lautet die einfache Botschaft des Kunstwortes. tamizdat.org sollte als Mittler fungieren.

Ein Notizbuch, voll gespickt mit Adressen von Leuten, die ähnliche Interessen und Pläne hatten, war nur ein weiterer Ansporn, das Netzprojekt möglichst schnell zu realisieren. Dann tauchten schon erste plagende Fragen auf, ob man dadurch nicht womöglich Vorarbeit für Majors leiste, die dann nur noch zugreifen müssten. Um dieser Gefahr nicht Vorschub zu leisten (und schließlich muss man auch irgendwie seine Wohnungsmiete bezahlen), entschied sich Tamizdat vor drei Jahren, selbst kommerziell zu werden – auch wenn der nicht-kommerzielle Aspekt in Form von Informationsaustausch nach wie vor im Zentrum steht – und erweiterte zum Vertrieb, der in Prag und New York aufgebaut wurde. Als große Chance für alle Beteiligten (Labels, Musiker usw.) versucht man schon länger den Sprung nach Deutschland zu schaffen, den drittgrößten Plattenmarkt der Welt. Andererseits wollte man auch direkt an die Konsumenten rankommen, weshalb Tamizdat, unweit vom Wenzelsplatz, einen Plattenladen öffnete, der den gesamten Internet-Katalog und mehr anbietet. Als Zielgruppe werden interessierte Touristen anvisiert, die das eine oder andere musikalische Schnäppchen beim Spaziergang durch die Altstadt erwerben wollen. Eine andere Strategie, Leute für Musik aus Osteuropa zu begeistern, führte zu Kooperationen mit Radiostationen. Etwa mit dem renommierten „Resonance FM“ aus London oder „Radio 1“ aus Frankfurt, das mehrteilige Features über Musik und Kultur aus den EU-Beitrittsstaaten lieferte. Auf „Resonance FM“ versorgt die Organisation mit der eigenen Radioshow „Tamizdat Radio“. Interessierte mit aktuellen Musik- und Kultur-News aus dem osteuropäischen Raum. Und wer noch immer nicht genug hat, kann über das „Radio Free Tamizdat“, einen 24-Stunden-online-Sender, am musikalischen Puls der Zeit bleiben. Neuerdings wird am Aufbau des „Archive of Central and Eastern European Dissident Music“ gearbeitet, das die Geschichte der Popkultur hinter dem „Eisernen Vorhang“ dokumentieren soll. Tamizdat möchte so wieder an seine Wurzeln als idealistisches Non-Profit-Unternehmen anschließen, was unter anderem 10.000 Dollar aus dem Fond der amerikanischen Firma NESsT einbrachte, die man für ein UNO-Projekt weiterverwenden möchte.

Die Zukunft des stetig expandierenden Unternehmens ist mehr als spannend. Amerikanischer Pioniergeist, gepaart mit einer gesunden Portion Idealismus, der sich ebenfalls in der Zusammenarbeit mit NGOs manifestiert, wie auch guten Geschäftsideen, haben bis jetzt schon zu hervorragenden Ergebnissen geführt. Ein regelmäßiger Blick auf www.tamizdat.org sollte überzeugen.



Peter Nachtnebel (1975) studierte Geschichte und Politikwissenschaft und ist freier Musikveranstalter in Wien.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Juli 2004
> Link: Tamizdat > Link:REPORT online-